Was macht meine Echtheit, mein Selbstsein, meine Originalität aus? Wie sehr lasse ich mich von Außen und Äußerlichkeiten prägen? Kriterien, die nicht nur für ein Bewerbungsgespräch entscheidend sein können. Dr. med. Amelie Sanktjohansers Gastkommentar ist ein Plädoyer für den Mut „selbst zu sein“.
Authentizität ist nicht nur ein uralter Begriff, sondern hatte immer schon einen hohen Stellenwert- wenn etwas für authentisch befunden wurde oder wird, hat es die Prüfung auf „Echtheit“, „Originalität“ bestanden. Da bei Objekten messbare Kriterien herangezogen werden können, ist diese „Prüfung“ bei ihnen leichter als bei uns Menschen.
Der Begriff Authentizität kommt vom griechischen authentikos, wobei „autos“ =„selbst“ bedeutet und „ontos“ =„sein“, das heißt wir sprechen hier von „Selbst-Sein“.
Für das „Selbst“ wiederum findet man unter anderem die Definition: “Es ist ein Konzeptsystem, das aus den Gedanken und Einstellungen über sich selbst besteht“.
( Psy.lmu.de, Sitzung8). „Sein“ wiederum wird auch mit „Existenz“ oder „Leben“ gleichgesetzt.
Wenn die Prüfung auf Authentizität bei Objekten leichter ist, woran wird dann bei uns Menschen unsere Echtheit, unser Selbstsein, unsere Originalität fest gemacht? :
Anhand dessen, ob wir zu unseren Stärken und Schwächen, unseren Werten, unseren Zielen und Ideen, unseren Bedürfnissen und Emotionen, zu dem was unser „Selbst“ ausmacht stehen und wie wir dies in unserem Denken, Handeln und Fühlen gleichermaßen zum Ausdruck bringen.
Die Herausforderungen, die an uns gestellt werden durch die sozialen Medien, die Digitalisierung und Globalisierung, Themen wie gender diversity, Rollenverteilung im privaten und beruflichen Dasein, Transsexualität, Erwartungshaltungen an unser Ausbildungsniveau, unsere Anpassungsfähigkeiten sowie an unser Selbstmarketing -also die optimale Darstellung meines Selbst, um erfolgreich zu sein-, lassen bei sehr vielen Menschen die Frage nach ihrer Authentizität , d.h. nach Unverfälschtheit, Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit , nach ihrem Selbst aufkommen. Lasse ich mich im Wesentlichen vom Außen, Äußerlichkeiten prägen oder haben meine Gedanken, Einstellungen und Handlungen für mich Gültigkeit?
Repräsentiere ich durch sie meine „Ich Aspekte“, meine Werte, Ideen und Ziele? Selbst wenn ja, erlaube ich mir sie zu leben? Heute zählt Authentizität sogar zu einem beruflichen Einstellungskriterium- was, wenn ich bei dem Bewerbungsgespräch meine Stärken und Schwächen, meine Werte, meine Emotionen und Ziele zum Ausdruck bringe und dann genau wegen meiner Authentizität durchfalle, den Job nicht bekomme?
Welche Gewichtung das Thema „Authentizität“ mit all den dazugehörigen Aspekten heute hat, lässt sich unter anderem daran erkennen, dass in den letzten drei Jahren allein bei Google der Begriff „Authentizität“ rund neun Millionen Mal mehr als zuvor gesucht wurde.
„Zu sich selbst, seinen Stärken und Schwächen stehen“…. Was bedeutet das?
Der Erforscher von Authentizität Carl Rogers z.B. meint hierzu: “Authentizität findet sich in den immer wieder aktualisierenden Übereinstimmungen des Selbstkonzeptes mit gemachten Erfahrungen des eigenen Selbst wieder. Menschen verleugnen oder ignorieren eigene Gefühle, Meinungen und Werte, aus Angst, den Erwartungen Anderer oder gesellschaftlichen Standard nicht zu entsprechen. Veränderung ist dann möglich, wenn Menschen Vertrauen in sich selbst, in ihre Gefühle und Werte entwickeln und danach leben lernen“ (Die zwei Seiten der Authentizität“, Dipl. Psych. S. Draschil, Tagung Authentizität“ 13.11.2015).
Dies bedeutet, „Authentizität“ ist nichts Statisches, sondern ein fließender Prozess, während dessen wir unsere Stärken und Schwächen, Gefühle, unsere Gedanken- und Verhaltensmuster kennen lernen und unserem authentischen Ich entsprechend verändern können, so dass immer stimmiger die Facetten unseres Ichs zu einem „Ganzen“ werden.
Bleibt die Frage zu klären, wie kann man seine Ängste überwinden, Vertrauen in sich selbst so finden, dass ich meine Authentizität lebe bzw. die innere Freiheit erlange zu entscheiden, wann ich diese anpasse?
Was braucht es hierzu?
Dies bedarf der Ehrlichkeit mit sich selbst und Anderen: „wann spiele ich eine Rolle, in welcher Umgebung und vor welchen Menschen und wann nicht?“, „mit wem vergleiche ich mich, wann will ich wie sein und warum?“ „stehe ich zu meinen Gefühlen und erlaube mir, diese auch anderen zu zeigen?“
Es bedarf der Selbstreflexion: „welche Ziele möchte ich wirklich erreichen und welche glaube ich erreichen zu müssen? „Was ist mir wirklich wichtig bzw. nicht und warum?“ „welche Überzeugungen lassen mich täglich so denken und handeln wie ich es tue, sind es Übernommene oder wirklich „meine“?“ etc.
Und es braucht den Mut zu all dem, denn sein Selbst zu finden, zu ihm zu stehen und zu leben kann auch Verzicht auf bestehende Konzepte, Strukturen und Sicherheit, negatives Feedback, Verunsicherung, Enttäuschungen, Verletzungen mit sich bringen. Im Positiven braucht es den Mut, die durch das leben seiner Authentizität gewonnene Power, Unabhängigkeit, größere Nähe und tiefere Beziehungen zu Mitmenschen anzunehmen.
Wie das geht?
Oft heißt es „einfach machen“: einfach seine Ängste, sich lächerlich oder etwas falsch zu machen oder abgelehnt zu werden, überwinden und einfach ausprobieren, sich selbst zu leben. Z.B. in einer Umgebung, in der man nicht so bekannt ist und damit vermeintlich negative Konsequenzen weniger schwerwiegend für einen sind.
Aber bin ich gerade da nicht authentisch, gehe gegen mein Selbst, wenn ich meine Ängste ignoriere, statt sie anzunehmen und zu reflektieren? Kann ich nicht vielmehr über die Klärung der wahren Ursachen meiner Ängste, meiner Glaubenssätze und daraus resultierender Verhaltensmuster diese so nachhaltig lösen, dass ich nicht nur eine Stärkung meines Selbst erfahre, sondern darüber hinaus weitere zu meinem Selbst passenden wahren Werte, Stärken und Überzeugungen entdecke und diese in mein Leben integriere?
Wie könnte das gehen?
Unsere Glaubenssätze, unsere Ängste und Konflikte sowie unsere emotionalen und körperlichen Symptome, die vielleicht unserer Authentizität „im Weg“ stehen, sind eigentlich wertvolle Wegweiser hin zu einer persönlichen, sie ursprünglich auslösenden, tieferliegenden Thematik.
Bei diesen Auslösern handelt es sich um Erfahrungen, die unsere persönlichen Grenzen überschritten und unsere Handlungsmöglichkeiten überfordert haben. Ist das, was man in dieser grenzüberschreitenden Situation gebraucht hätte, nicht möglich oder gesteht es sich nicht zu, verletzen wir einen Teil unserer Persönlichkeit. In solchen Momenten, die einem in dieser Form nie wieder passieren dürfen und man bewusst oder unbewusst alles tut, um solches zu vermeiden, bildet jeder von uns ganz individuell Gedankenmuster, die von da an unser Denken, Handeln und Fühlen beeinflussen. Sie bilden unsere Realität und lassen unser tägliches Tun und Erleben sowie deren Resultate hiervon entsprechend interpretieren.
Da jeder von uns die grenzüberschreitenden Momente ganz individuell erlebt, sind auch die resultierenden Glaubenssätze ganz individuell. Dies erklärt die unterschiedlichen Gefühls- und Verhaltensmuster trotz gleicher Erfahrung. Hierzu ein Beispiel:
Drei Personen fallen auf die gleiche Weise hin und schürfen sich dabei ihr Knie auf. Es vergehen ein paar Minuten bis Hilfe kommt. Die erste Person fühlt sich bis dahin alleine und bildet den Glaubenssatz: „keiner hilft mir“. Die zweite Person würde am liebsten aufstehen und weg gehen, bleibt aber vorsichtshalber sitzen. Hier könnte der Glaubenssatz sein: “ich kann nicht wie ich will“. Und die dritte Person? Sie ist von dem plötzlichen Sturz so überrascht, dass sich in ihr z.B. verankert: “es ist immer Vorsicht geboten“. Dies geschieht- natürlich auch altersabhängig- bewusst oder unbewusst.
Von da an wird im positiven wie eventuell auch im negativen Sinne mein Dasein von meinem Denkmuster beeinflusst: meine persönlichen Werte und Motive, mein Handlungs- und Entscheidungsspielraum, meine Emotionen, meine Selbstentfaltung und mein Selbstbewusstsein, meine Leistungsbereitschaft- und -fähigkeit, meine Resilienz. Die Wahrnehmung und Interpretation meiner Realität beeinflusst die Begegnung und meinen Umgang mit Menschen privat wie beruflich, meine Offenheit und Flexibilität.
Bei unserem Beispiel könnte dies in positiver Hinsicht bedeuten:
Jemand, der „immer vorsichtig sein muss“, hat damit die Chance, gefährliche Situationen rechtzeitiger zu erkennen und umsichtig zu reagieren als manch anderer.
Ein anderer, der glaubt, dass „ihm keiner hilft“, ist vielleicht autarker und progressiver.
Für jemanden, der „nicht kann wie er will“ könnte Hilfsbereitschaft von großer Bedeutung sein und er hilft anderen, ihre Bedenken, es nicht schaffen zu können, aufzulösen, in ihrem Leben weiter zu kommen.
Leider können uns unsere Glaubenssätze jedoch auch negativ beeinflussen. Um bei unseren Beispielen zu bleiben:
wenn „ich nicht kann wie ich will“ bekomme ich eventuell depressive oder aggressive Verstimmungen, empfinde Neid gegenüber „Erfolgreichen“, halte meine Power zurück und stehe meiner eigenen Performance dadurch im Weg.
Wenn „ich immer vorsichtig sein muss“, wie sehr kann ich mich dann auf Beziehungen wirklich einlassen? Zeige und lebe ich dann meine Potentiale oder sicherheitshalber nicht? -womit meine Vorsicht mir bei der Umsetzung meiner privaten sowie beruflichen Ziele dann eher im Weg steht.
Wenn“ mir keiner hilft“ mache ich besser gleich alles alleine mit der Folge, dass mir eventuell Teamunfähigkeit attestiert wird oder ich in ein Burnout rutsche.
Die sich wiederholenden Gedankenmuster und hieraus resultierenden Emotionen können letztendlich zu körperlichen und emotionalen Symptomen führen, Konflikte in allen Lebensbereichen provozieren. Konflikte werden zudem durch Situationen provoziert, die wie ein Trigger wirken: sie erinnern einen unbewusst an das zu vermeidende, grenzüberschreitende Erlebnis, was den Betroffenen dann zu einem, in der jetzigen Situation unangepasstem, Denken, Fühlen und Verhalten veranlassen kann.
Und wo ist man bei all dem dann authentisch? Lebe ich entsprechend meiner Werte und Ziele, von denen ich glaube überzeugt zu sein oder sind es die durch die grenzüberschreitenden Erlebnisse entstandenen Glaubenssätze, die mein Selbst dirigieren?
Wie kann ich dies differenzieren und für mein Selbst zu einer authentischen Lösung kommen?
Sehen wir unsere Konflikte und unsere emotionalen und körperlichen Symptome weniger als Kontrahenten, sondern als Wegweiser hin zu der sie zu lösenden Thematik. Durch Erkennen dieser eigentlichen Ursache und Integration der Anteile, die von der grenzüberschreitenden Erfahrung heute noch für den Betroffenen so relevant sind, dass sie ihn täglich wie ein Motor am Laufen halten, fällt die Basis der hierdurch entstandenen Glaubenssätze weg. Der Motor kommt zum Stillstand. Durch Integration des auslösenden Ereignisses und der damit in Verbindung stehenden Emotionen muss ich nicht mehr all die Kraft zur Vermeidung einer vermeintlich gefahrvollen Situation und zur Verdrängung meiner Gefühle aufwenden. Vielmehr steht mir diese nun zur Nutzung und Aufrechterhaltung meiner Ressourcen zur Verfügung. Angst und Vermeidungsstrategien verlieren ihre Wertigkeit. Wir erlangen den Freiraum, entsprechend unserem Ich zu denken und zu fühlen, unsere Glaubens- und damit Verhaltensmuster entsprechend unserer individuellen Persönlichkeit umzuwandeln, wir erhalten Klarheit darüber, welche Überzeugungen, Werte und Ziele unserem Ich wirklich entsprechen, wir kommen zu unserer Authentizität und unserem ganzen Potential. Die hieraus erwachsende Stärke gibt uns das Vertrauen in uns, „selbst zu sein“.
Basierend auf der erlangten Authentizität und der hierdurch geprägten Glaubenssätze können wir mit Respekt und Achtsamkeit uns selbst und unserer Umwelt gegenüber diese in Taten umsetzen. Durch die Nachhaltigkeit der Integration und der darauf basierenden Veränderungen können sich Stress, Symptome und Konflikte auflösen.
Text: Dr. med. Amelie Sanktjohanser