Sie ist eine der führenden Wissenschafterinnen Deutschlands, berät die Forschung in Österreich und lässt mit sehr direkten Worten aufhorchen: Für Soziologin Jutta Allmendinger ist klar, dass Frauen und Männer gleichermaßen für eine gute Zukunft zuständig sind. Ein Gespräch über den Wert von Care-Arbeit, die Wichtigkeit Geld in Beziehungen offen anzusprechen und gute Gleichstellungspolitik.
„Der Heiratsmarkt lohnt sich für Frauen mehr als der Arbeitsmarkt“, haben Sie kürzlich in Salzburg gesagt. Was steckt hinter dieser Aussage?
Jutta Allmendinger: Diese Feststellung gilt für Westdeutschland bis zum Jahr 2017. Bis dahin waren die selbst erwirtschafteten Altersrenten von Frauen niedriger als die von Männern abgeleiteten Hinterbliebenenrenten. Die niedrigen eigenen Altersrenten von Frauen sind Folge von langen Erwerbsunterbrechungen, Teilzeitarbeit, niedrigen Löhnen und nicht sozialversicherungspflichtigen Jobs. Die Absicherung über Ehemänner ist allerdings ganz schön gefährlich. Wenn die Ehe in die Brüche geht, sind Frauen schnell auf sich alleine gestellt. Diese Abhängigkeit ist belastend, kleine Renten sind es auch.
Lässt sich die Lohnlücke endlich schließen, indem Frauen wie Männer werden?
Allmendinger: Bevor wir darüber sprechen, wie man Lücken schließt, müssen wir uns zunächst darüber unterhalten, wie die Erwerbsarbeit in Zukunft gestaltet sein soll. Ist das Ziel, dass alle Vollzeit arbeiten? Dann schließt sich die Lücke, indem Frauen quasi zu Männern werden, also deren Erwerbsverläufe übernehmen. Gehen wir diesen Weg, eröffnen sich aber neue Lücken: Wenn beide Vollzeit arbeiten – wer kümmert sich dann um Kinder, pflegt die Eltern, ist ehrenamtlich tätig? Ich schlage daher vor, dass wir eine neue Normalarbeitszeit von 32 Stunden einführen, die über den gesamten Lebensverlauf flexibel verteilt ist. Wenn wir diese Lücken schließen wollen, müssen sich auch die Männer bewegen und ihre Arbeitszeiten kürzen, damit Frauen eben nicht auf die jetzt gültige Vollzeit gehen müssen. Beiden bliebe damit Zeit für wichtiges, nicht bezahltes Engagement in Familie und Gesellschaft.
Sie forschen zu Werten und Zukunftsvorstellungen junger Leute. Die größten Erkenntnisse?
Allmendinger: Junge Männer sind bereit für einen Wandel. In Umfragen sagen sie immer wieder, dass sie weniger Stunden erwerbstätig sein und stattdessen Zeit für Kinder, Freunde, Reisen haben wollen. Allerdings setzen nur wenige Männer ihre Wünsche um, viele verweisen auf Geschlechternormen und drohende Karrierebrüche. Da ist etwas dran. Studien zeigen, dass unsere Gesellschaft Kinder den Frauen zuschreibt – und umgekehrt. Unsere Strukturen müssen sich ändern, damit neue Geschlechterkulturen entstehen können.
Ändert sich nicht auch die Rolle des Mannes zusehends?
Allmendinger: Männer wenden sich immer mehr ab von traditionellen Männerrollen. Sie wollen nicht das Leben ihrer Väter führen, sondern wollen sehen, wie ihre Kinder aufwachsen. Das gibt uns große Hoffnung. Steigt auch bei Männern das Bedürfnis, Zeit für ihre Partnerschaft und Familie zu haben oder gar unbezahlte Care-Arbeit daheim zu leisten, dann sind wir auf einem guten, gemeinsamen Weg.
Bei allem Fortschritt hat die Pandemie Frauen zurückgeworfen.
Allmendinger: Tatsächlich. Frauen waren besonders betroffen. Männer haben sich zwar im Homeoffice etwas mehr als zuvor um ihre Kinder gekümmert, im Haushalt mitgearbeitet oder bei den Hausaufgaben geholfen. Bei Frauen stieg die Care-Arbeit aber ebenso an. Hinzu kam, dass Frauen psychisch stark gefordert waren, ihre mentale und kognitive Belastung waren extrem hoch. Deshalb muss die Politik alles daran setzen, eine gleichberechtigte Lebensführung zu schaffen. Jetzt.
Vielen Frauen fehlt der Blick für ihre Finanzen. Ist Information Hol- oder Bringschuld?
Allmendinger: Wenn wir Befragungen durchführen, haben Menschen null Probleme damit, offen und frei über Sex zu reden. Wenn wir über die Geldverteilung in Haushalten sprechen, werden die Antworten sehr verhalten, geradezu dürr. Frauen wissen oft nicht, was ihr Partner verdient, sie führen kein Haushaltsbuch und sehen nicht, wer was ausgibt. Ein wichtiger Schritt aus diesem Dilemma ist, über Geld zu sprechen. Auch Aufklärung und Bildung sind unbedingt notwendig, etwa durch Finanzunterricht in der Schule.
Wie geht gute Gleichberechtigungspolitik?
Allmendinger: Für mich würde sie voraussetzen, dass wir uns über die Wertigkeit von Arbeit Gedanken machen und überlegen, wie wir nicht bezahlte Tätigkeiten zu Hause, die gesellschaftlich von höchster Relevanz sind, mit bezahlter Arbeit gleichstellen. Erziehungs- und Care-Arbeit müssen größeres Gewicht bekommen. Deshalb bin ich auch eine Verfechterin der Vier-Tage- oder 32-Stunden-Woche. Beide Elternteile haben so die Möglichkeit, sich Beruf und Familienarbeit so aufzuteilen, dass sie einen Tag in der Woche für sich haben. Gute Gleichberechtigungspolitik heißt für mich auch, dass alle Anreize, sich von anderen abhängig zu machen, abgeschafft werden:Ehegatten-Splitting, kostenlose Mitversicherung, Minijobs. Dabei muss Gleichstellung als Querschnittsaufgabe aller Ministerien verstanden werden.
Stichwort „neue Arbeit“. Es geht vielen darum, Arbeit so zu transformieren, dass sie selbstbestimmte Menschen hervorbringt. Eine Utopie?
Allmendinger: Nein. Doch es bleibt die Frage, ob sie von allen gelebt werden kann. Als Solo-Selbstständige flexibel und mobil zu sein, ist nur drin, wenn man einen Grundstein an ökonomischer Sicherheit und ausreichend Selbstführungskompetenzen hat. Im Homeoffice konzentriert arbeiten zu können heißt, dass man die Arbeit überhaupt daheim erledigen kann, ein ruhiges Plätzchen und die nötigen Arbeitsmaterialien hat.
Wie gelangen wir in eine gute Zukunft?
Allmendinger: Es geht nur gemeinsam. Wir werden keine Lücken welcher Art auch immer schließen, wenn bezahlte und unbezahlte Arbeit nicht gleichermaßen aufgeteilt werden. Wenn Frauen Gleichberechtigung fordern, ist das keine Männer-Schelte – sie kommt ihnen ebenso zugute wie der gesamten Gesellschaft. Menschen sind in Ländern, die mit der Gleichstellung weit vorangekommen sind, glücklicher als in Ländern mit Ungleichheit.
Zur Person
Als eine der renommiertesten Soziologinnen Deutschlands setzt sich Jutta Allmendinger für die Gleichstellung von Mann und Frau ein. Dieses Engagement brachte ihr zuletzt den Marie-Juchacz-Frauenpreis 2022 ein. Forschung und Meinung der gebürtigen Mannheimerin sind gefragt; so ist sie Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung. Papst Franziskus ernannte die Mutter eines Sohnes zum Mitglied der Päpstlichen Akademie der Sozialwissenschaften. Weiters ist sie Mitglied im Herausgeberrat der Wochenzeitung Die Zeit.
Buch-Tipp
Nicht nur das System muss sich ändern, sondern jede und jeder Einzelne muss ihren Teil beitragen, damit die Geschlechter endlich wirklich gleichberechtigt sind. Jutta Allmendinger zeigt nicht nur den Ist-Zustand heute auf, sie liefert mit ihren Visionen auch einen wichtigen Leitfaden für ein ausgeglichenes, faires Miteinander in der Zukunft.
„Es geht nur gemeinsam! Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen“:
Ullstein, Berlin 2021, ISBN 978-3-548-06452-9