Was wollen wir eigentlich? Dynamik, Innovation, eine neue politische Sprache, die von gesellschaftlicher Anteilnahme und dem Willen, Zukunft aktiv zu gestalten, geprägt ist? Oder die übliche Routine, bei der sich das politische Establishment von Meinungsumfrage zu Meinungsumfrage laviert und die angeschlagenen, aber weiter gültigen Insignien der Macht an die Nachfolger weiterreicht?
Wahrscheinlich wollen wir eine Mischung aus beidem, je nachdem was wann am besten passt. „Situationselastisch“, nennt man dieses Verhalten in Österreich. Tagsüber Dynamik, neue Politik, Zukunftsorientiertheit und abends am besten nichts Neues. Nichts, was den Herzschlag hochschießen lässt, weder den eigenen noch den der Wähler. Aber so geht das nicht in einer aus den Fugen geratenen Welt, in der immer häufiger eine junge Generation das Sagen hat: Man kann nicht einerseits mehr Jugend, mehr Frauen, mehr Diversität, mehr Realitätsnähe zum Volk, mehr Bodenständigkeit, mehr Anstand und Ehrlichkeit einfordern, um der permanent steigenden Politikverdrossenheit Einhalt zu gebieten – und dann sauer sein, wenn es tatsächlich so kommt. Das ist das Erste, was mir zur Causa rund um die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin einfällt.
Denn die 36-Jährige steht für eine neue, junge Politik und nicht für eine vermeintlich junge, wie man sie in der Ära Sebastian Kurz, in Österreich erlebte. Sanna Marin repräsentiert jene Art von politischem Wandel, persönlichem Engagement, von Unaufgeregtheit und Authentizität, die viele Menschen in Europa bereits länger einfordern. Sie versteckt sich nicht hinter NLP-Floskeln, arbeitet sich ernsthaft durch die zentralen Themen ihres Landes, führte Finnland bislang souverän durch die Corona-Krise und Nato-Beitrittsverhandlungen. Und sie macht auch gern hin und wieder Party – wie das die meisten ihrer Generation tun, erst recht, wenn sie unter hohem Leistungsdruck stehen. Abshaken hilft beim Stressabbau, setzt Endorphine frei, regt die Serotonin-Produktion an, sorgt für innere Zufriedenheit. Man könnte sagen: Das, was für Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel Spaziergänge an der Ostsee waren, ist für Sanna Marin das Tanzen.
Trotzdem drängt sich ein weiterer Aspekt auf: Vor wenigen Tagen wurde ich bei der Führung durch ein international agierendes High-Tech-Unternehmen am Eingang aufgefordert, die Kameralinsen meines Smartphones zu verkleben. Mir war sofort klar, warum – und ich musste an Sanna Marin denken. Denn wo kein Handy, da kein Foto, kein Film, nichts was man leaken, nach außen spielen könnte. Damit auch keine moralinsauren Diskussionen, keine hochgejazzte Erregung, kein Futter für die Gegner, kein Infragestellen von politischer Kompetenz. Vermutlich wird die Ministerpräsidentin künftig von ihrem privaten Umfeld einen bedachteren Umgang mit Smartphones einfordern. Parteipolitisch wäre dies klug, gesellschaftspolitisch ist es jedoch schade. Denn gerade in schwierigen Zeiten tut es gut, Politiker*innen zu erleben, die echte, ansteckende Lebensfreude verströmen.