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Wir Weltbürgerinnen

Auslandserfahrung tut nicht nur der ganz persönlichen Entwicklung gut – auch Unternehmen erwarten zunehmend, dass sich Bewerber:innen auf fremdem Terrain behauptet haben müssen. Doch internationale Praktika sind Karriere-Booster allen Menschen zugänglich gemacht werden sollten,unabhängig von deren finanziellen Mitteln.

Eddie dachte nie, dass er ins Ausland gehen würde. Er ist 1996 mit einer leichten Form von Zerebralparese auf die Welt gekommen. Seine ersten Lebensjahre verbrachte er mit seiner alleinerziehenden Mutter in seiner Heimat- gemeinde im Snowdonia National Park in Wales. Dort besuchte er die Schule und verbrachte Zeit mit seinen Freunden. Obwohl er kein schlechter Schüler war, hatte er stets das Gefühl, dass seine Zukunftsoptionen aufgrund seiner Behinderung beschränkt wären. Als er im Alter von 13 Jahren seine Tante in London besuchte, lernte er Elena kennen, eine Spanierin, bei der ebenfalls eine zerebrale Parese diagnostiziert war. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Eddie die Hoffnung, doch mehr von der Welt sehen zu können als sein Heimatland. Auf seine Frage, warum sie so gut Englisch spreche, antwortete Elena, sie sei auf Sprachurlaub. Dazu kam sie über eine Plattform namens Global Natives.

Global Natives vernetzt Menschen auf der ganzen Welt, die Werte wie Internationalität, Mehrsprachigkeit, Weltoffenheit, Aufgeschlossenheit und Chancengleichheit vertreten. Eine Community voller „Weltbürger:innen“, so die Eigenbezeichnung. „Weltbürgerdenken ist eine Geisteshaltung, die allen offen steht“, erklärt Nina Prodinger, eine der Gründerinnen von Global Natives. Die Organisation möchte den kulturellen und sprachlichen Austausch fördern und Familien helfen, ihren Kindern einen kostengünstigen Auslandsaufenthalt zu ermöglichen.

„Nur wenige junge Menschen, die in die weite Welt hinauswollen, können sich das leisten.“

Nina Prodinger, 1991 in London | Foto: beigestellt

Die 60-jährige Nina Prodinger ist in einem kleinen Dorf im Lungau aufgewachsen. Nach dem Abschluss ihrer Matura wollte sie so schnell wie möglich weg. Hinaus in die weite Welt – nach dem Vorbild ihrer Mutter, einer weltoffenen Münchnerin. Nina kellnerte, um Geld für ein Langstreckenflugticket zu verdienen. Sobald sie genügend Geld beisammen hatte, machte sie sich auf den Weg nach Neuseeland. Sie reiste und hielt sich mit Gelegenheitsjobs wie Tabakpflücken und Kiwi-Ernten über Wasser. So lernte Nina bald andere Backpacker:innen kennen, unter anderem jene, mit denen sie viele Jahre später Global Natives gründen würde. Ein Projekt, das es Menschen jeder Herkunft und unabhängig von finanziellen Mitteln ermöglichen soll, andere Kulturen kennenzulernen, Sprachkenntnisse zu verbessern und die für die späteren Jobaussichten so wichtige Auslandserfahrung zu sammeln. „Nur ein kleiner Prozentsatz aller jungen Menschen, die in die weite Welt hinaus wollen, kann das auch. Die größte Hürde sind die hohen Kosten. Das Resultat ist, dass diejenigen, die später die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen treffen, vorrangig jene sind, die sich eine internationale Bildung leisten konnten. Wir sind jedoch der festen Überzeugung, dass sich die gesellschaftliche Breite auch in Wirtschaft und Politik widerspiegeln muss“, sagt Nina Prodinger.

Internationalität ist gefragt

Parallel dazu zeichnet sich nämlich schon seit einigen Jahren folgende Entwicklung ab: Global agierende Unternehmen legen im Recruiting-Prozess zunehmend Wert auf absolvierte Auslandssemester und -praktika. Der Grund liegt meist nicht darin, dass sie sich davon bessere Sprachkenntnisse von den Bewerber:innen erhoffen. Die meisten Konzerne setzen nämlich voraus, dass Englisch flüssig gesprochen wird. Auslandserfahrung wird oft wegen der Fähigkeit, über den Tellerrand hinauszublicken, gewünscht, sagen HR-Verantwortliche. Sie erhoffen sich dadurch ein natürliches Verständnis für Diversität und Inklusion von den Bewerber:innen. Nina Prodinger ist der Meinung, dass die Erfahrung, im Ausland gelebt zu haben, für jeden Menschen unbezahlbar ist. „Jeder Mensch profitiert davon, sich aus dem heimischen Umfeld herauszubewegen und wo hinzugehen, wo einen niemand kennt. So besteht die Möglichkeit, als genau das Individuum wahrgenommen zu werden, das man ist. Gleichzeitig lernt man, dass es eine Rolle spielt, wie man sich anderen gegenüber verhält.“

„Jeder Mensch profitiert davon, wenn er wo hingeht, wo ihn niemand kennt.“

Nina Prodinger heute – mit ihrem Enkel Arno | Foto: beigestellt

Global Natives agiert als Schnittstelle für Familien mit Kindern auf der ganzen Welt, die sich nach eigenem Belieben miteinander austauschen können. Manchmal würde es nicht über ein paar WhatsApp-Nachrichten hinausgehen. Andere Male komme es zu einem Besuch, oft sogar zu einem Schüler:innenaustausch, bei dem die jeweils andere Familie als Gastfamilie dient. „Dabei fällt der Kostenfaktor der vermittelnden Agentur weg“, erklärt Nina Prodinger. Zuvor müssen die Familien jedoch durch einen mehrwöchigen Aufnahmeprozess bei Global Natives gehen. Es werde Wert darauf gelegt, dass der Beitritt keine spontane Entscheidung ist, heißt es. Nach der Erstanmeldung müssen die Familien auf eine Rückmeldung der Organisation warten, die anschließend alle Informationen nochmals überprüft. Die Familien zahlen einen jährlichen Mitgliedsbeitrag von 264 Euro, wobei die Hälfte der Einnahmen in Stipendien und Förderprogramme für Schüler:innen fließen. Die Global Natives finanzieren sich zur Gänze durch die Mitgliedsbeiträge. Sie beschäftigen mehr als 50 hauptberufliche Mitarbeiter:innen und hunderte freiberufliche regionale Ansprechpartner:innen weltweit. Seit der Gründung im Jahr 2009 sind über drei Millionen Familien den Global Natives beigetreten. Die meisten, mehr als 70 Prozent, stammen aus Europa, Kanada und den USA. Aber auch Familien aus Asien, Süd- und Zentralamerika, sowie Afrika und Australien sind Teil der Community.

Unverhofftes Vorbild

Eddie und seine Mutter traten den Global Na- tives im März 2010 bei. Noch im selben Jahr tauschte er vier Wochen lang den Platz mit einem französischen Gleichaltrigen, Yves. Während Yves in Wales Gesangsunterricht nahm, lernte Eddie Französisch und ließ sich von Yves Vater, einem Physiotherapeuten, inspirieren. Heute studiert Eddie selbst Physiotherapie an der Université Pierre et Marie Curie in Paris und spezialisiert sich auf zerebrale Parese.

Dieser Artikel stammt aus der aktuellen SHEconomy-Printausgabe. Dort lesen Sie noch viele weitere spannende Interviews und Geschichten rund um den Themenschwerpunkt Bildung und Success. Zu finden im Kiosk Ihres Vertrauens oder in unserem Online-Shop.

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