Facebook und Co haben es möglich gemacht, Selbstdarstellung und Selbstoptimierung auf sehr einfache Weise miteinander zu verbinden. Wer es richtig machen möchte, zeichnet sein Kommentarfenster zum ich so, dass es nicht aus dem Rahmen fällt.
Geht es um Identität im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, denkt die besonders findige Leserin möglicherweise im ersten Schritt an den Schriftsteller Walter Benjamin, im zweiten vermutlich an Robotik und künstliche Intelligenz, bis sie in ihrer Assoziationskette schließlich bei Facebook, LinkedIn und Co hängen bleibt. Tatsächlich werden soziale Netzwerke meist sehr schnell mit dem Wunsch, sich selbst auf bestimmte Weise digital zu reproduzieren, in Verbindung gebracht. Glaubt man dem gängigen Diskurs, so haben sich hier sogar Räume entwickelt, in denen Narzissmus und virtueller Seelen-Striptease wild um sich greifen. Ego-Eskalation par excellence sozusagen. Allerdings zu Unrecht, argumentiert die Social-Media- und Online-Marketing-Expertin Lena Doppel-Prix: »Social Media ist in erster Linie ein massenmediales Tool. Um das zu untermauern, braucht man sich nur die bekannte 90-9-1-Regel in Erinnerung zu rufen.« Sie bezieht sich hier auf ein Konzept, das der Sachbuchau- tor Jakob Nielsen im Jahr 2006 aufgestellt hat, das besagt, dass sich der Grad der Beteiligung in sozialen Netzwerken und Online-Communitys in einer 90-9-1-Verteilung manifestiert. Konkret bedeutet das, dass von insgesamt 100 UserInnen, nur eine oder einer postet, neun kommentieren und 90 mitlesen. Doppel-Prix fügt allerdings auch hinzu, dass diese Regel die tatsächliche Verteilung nicht mehr ganz abbildet, man aber dennoch davon ausgehen kann, dass nur zehn bis dreißig Prozent der UserInnen wirklich zu den aktiven NutzerInnen zu zählen sind. »Demnach sind auch nur ganz wenige wirklich daran interessiert, ein soziales Netzwerk zur Selbstdarstellung zu nutzen. Mitunter auch ein Grund dafür, dass viel mehr Menschen auf WhatsApp aktiv sind als auf Facebook und Co. Zum Thema Politik äußert sich in Social-Media Netzwerken beispielsweise durchschnittlich nur ein Prozent.«
Wie weit lehnt ihr euch aus dem Kommentarfenster?
Selbst wenn es nur ein kleiner Teil aller Social-Media-NutzerInnen als notwendig empfindet, sich so weit aus dem Kommentarfenster zu lehnen, bis man auch wirklich von jederfrau und jedermann gesehen und gehört wurde, so lässt sich kaum bestreiten, dass Social Media dem Ego grundsätzlich mehr Platz verschafft hat. Wie die beiden amerikanischen KommunikationswissenschafterInnen Alexandra Barrasch und Jonah Berger in einer 2014 veröffentlichten Untersuchung darlegen, neigt man in Onlinegesprächen nämlich deutlich stärker dazu, Informationen über die eigene Person in den Vordergrund zu rücken, als in Gesprächen, die offline stattfinden. Barrasch und Berger führen das auf die Größe der Zuhörerschaft und damit automatisch auch auf einen prinzipiell nur auf Sparflamme vor sich hin köchelnden Empathie-Vorrat zurück. Solange also unklar ist, ob in einer Runde an Menschen eine bestimmte Person tatsächlich Aufmerksamkeit sucht oder Rat braucht, wird die Perspektive nur ungern gewechselt.
Es geht zwar um Identität im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, aber aufgrund dieser Beobachtungen allen aktiven Social-Media-NutzerInnen gleich Starallüren oder narzisstische Züge zuzuschreiben, wäre trotzdem etwas zu hochgegriffen. Auch die Online-Marketing- und Storytelling-Fachfrau Sabrina Oswald interpretiert diese Entwicklung eher als Effekt eines veränderten Kommunikationsmodells: »Ab jenem Moment, als soziale Netzwerke stärker genutzt wurden, war es nämlich plötzlich möglich, mehr als nur bilateral zu kommunizieren. Es entstand ein Netzwerk-Dialog. Und daraus wiederum die Möglichkeit, den Wunsch nach den berühmten ’15 Minutes of Fame‘ zu befriedigen. Auf der anderen Seite ging es vielen aber natürlich auch einfach nur darum, die eigene Meinung auf einfacherem Wege kundzutun und die Haltungen anderer zu kommentieren. Insgesamt hat das den NutzerInnen natürlich viele neue Möglichkeiten eröffnet. Früher hatte schließlich nicht jede oder jeder eine mediale Oberfläche. Entweder man war eine Berühmtheit oder nicht. Dass es jetzt prinzipiell für alle möglich ist, hat vieles verändert und sogar neue Dienstmodelle erschaffen.«
»Egal ob in Linz-Umgebung oder in New York, jede und jeder könnte es hinkriegen«
Sabrina Oswald bezihet sich hier auf Berufsbilder, die durch das Netz und Social Media überhaupt erst entstanden sind: Blogger und Influencer. Während der Berühmtheitsgrad eines Testimonials früher an Film- und Fernsehauftritten gemessen wurde, ist es heute ausreichend, sich eine kleine Popularität in seinem eigenen digitalen Raum aufzubauen. Damit zeichnet sich eine Entwicklung ab, die auch für Unternehmen zusehends interessanter wird und mitunter sogar dazu führt, dasss InfluencerInnen immer häufiger als MarkenbitschafterInnen eingesetzt werden. »Egal ob ich in Linz-Umgebung wohne oder in New York, jede und jeder könnte es hinkriegen. Das ist natürlich für viele ein Anreiz und das Jobprofil des Influencers wird dadurch immer interessanter«, bringt es Sabrina Oswald auf den Punkt. Influencer Marketing basiert demnach auf der Annahme, dass Menschen anderen Menschen eher vertrauen als einer abstrakten Botschaft, die von einem Unternehmen ausgeht. Wer seine Botschaften und Slogans mit Leben füllen möchte, sorgt also dafür, dass sie ein Gesicht bekommen. Bestätigt wird das unter anderem auch durch eine im Jahr 2014 durchgeführte Studie, die aufzeigt, dass Instagram-Postings, auf denen Gesichter zu sehen sind, um 38 Prozent mehr Likes bekommen als gesichtslose Beiträge. Sich nach den ersten drei Postings gleich eine Karriere im Netz auszumalen, kann allerdings schnell zu Ernüchterung führen. »Obwohl in den Neunzigern alle mit irgendeiner Grunge-Band unterwegs waren, ist kaum jemand wirklich damit berühmt geworden. So ähnlich würde ich das heute auch bei BloggerInnen und ihren Möglichkeiten sehen. Der große Unterschied zu damals ist allerdings, dass es mittlerweile möglich ist, alle Medien selbst zu bedienen. Wer heute beispielsweise publizistisch tätig sein möchte, hat zahlreiche Möglichkeiten dieses Ziel selbst in Angriff zu nehmen«, erklärt Doppel-Prix.
Belohnung am laufenden Band
Dazu kommt, dass die digitale Selbstdarstellung eines ganz besonders eindringlich verspricht: Belohnung am laufenden Band. Ermöglicht werden diese Glücksmomente auf Knopfdruck in erster Linie durch den Like-Button, der fast jedes Posting mit dem Wunsch nach sozialer Anerkennung unterlegt. Das menschliche Verlangen nach Aufmerksamkeit und Anerkennung wurde jedoch nicht im Facebook Headquarter erfunden, sondern hat damit zu tun, dass Identität als ebenso reflexives wie flexibles Scharnier zwischen Innen- und Außenwelt wahrgenommen wird.
Um in möglichst vielen sozialen Gruppierungen ein positives Bild zu hinterlassen, muss das eigene Bild immer wieder ausgebessert und mit neuen Konturen versehen werden. Nur so lassen sich neue Zugehörigkeiten erschließen. Dieses zutiefst menschliche Verhalten findet natürlich auch im Netz statt. Allerdings mit einem gewaltigen Unterschied: In sozialen Netzwerken hat die Unmittelbarkeit weitgehend ausgedient und wurde durch eine Vielzahl an Kontrollmechanismen ersetzt. Die digitale Selbstdarstellung erlaubt es also, eine Nachricht zehnmal durch die eigene Korrekturschleife zu jagen, bevor sie tatsächlich verschickt wird. Auch ein nerviger Pickel auf der Nase wird innerhalb weniger Sekunden wegretuschiert, bevor das vorgestern aufgenommene Urlaubsfoto endlich geteilt wird.
Diese Möglichkeiten, am eigenen Bild zu schrauben, können auf der einen Seite natürlich dazu führen, dass das digitale Ich eher als eigenes Produkt und nicht bloß als virtuelle Reproduktion durch sämtliche Social-Media-Kanäle geistert, auf der anderen Seite kommt man um ein gewisses Maß an Ego-Design im Netz gar nicht mehr herum. »Auf Netzwerken wie LinkedIn oder Xing wird die Profilierung über Themen und Inhalte, aber auch über die eigene Persönlichkeit innerhalb einer bestimmten Themenwelt immer wichtiger. Andere UserInnen möchten wissen, wofür man steht und auch in der HR wird das zunehmend berücksichtigt«, schätzt Sabrina Oswald die Situation ein. Wer im Netz ein vollkommen neues Bild von sich zeichnen möchte, wird allerdings sehr schnell dahinterkommen, dass es in gewissen Situationen ganz schön schief hängt. Der Vorwurf der Unglaubwürdigkeit lässt dann nicht allzu lange auf sich warten. Solange aber alles im Rahmen bleibt, eröffnet das Netz unzählige Möglichkeiten, sich selbst auszuprobieren, und kreiert Situationen, die es notwendig machen, verschiedene Facetten der eigenen Persönlichkeit vor den Vorhang zu holen. So wie im realen Leben auch, nur eben gut gefiltert – auf zweifache Weise, versteht sich.