Bringen uns Visionen wirklich weiter? In ihrer Kolumne zeigt Wirtschaftsphilosophin und VUCA-Expertin Melanie Vogel, warum wir sie gerade jetzt so dringend brauchen.
„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!“ Unvergessen, von Altkanzler Helmut Schmidt gegrummelt, der später im ZEITmagazin (4. März 2010) zugab, der Satz sei „eine pampige Antwort auf eine dusselige Frage“ gewesen. Dienlich ist das Zitat allemal, denn es bedient zwei „Fraktionen“: die Visionäre und die Realisten. Erstere widersprechen Schmidt vehement, letztere berufen sich auf ihn. Doch was ist nun wahr? Brauchen wir Visionen, um Zukunft zu gestalten – oder brauchen wir sie nicht?
Visionen, also idealisierte, motivierende, positiv formulierte Vorstellungen eines zukünftigen Zustandes, den man erreichen will, sind hilfreich und notwendig, um leichter aus Krisen herauszukommen, eine positive Lebenseinstellung und eine starke Fokussierung zu behalten, wenn das Außen im Chaos versinkt. Doch um zielführende Visionen manifestieren zu können, müssen wir eine ganz wichtige Unterscheidung treffen, nämlich die zwischen Traum und Illusion.
In den Vorstellungen der allermeisten Menschen ist die Zukunft ein zu erwartender Tatbestand, eine sicher geglaubte Realität. Weil wir nichts anderes kennen und selbstverständlich überhaupt keine Vorstellungen davon haben können, was die Zukunft für uns bereithält, wandelt unser illustrer und phantasievoller Geist auf altbekannten Pfaden, wenn er sich die Zukunft vorstellt. Doch genau das ist eine Illusion. Illusionen sind Gedankengebilde, Fantasien, die unserem egogetriebenen Verstand entspringen. Sie ähneln in der Unverrückbarkeit einem Glauben. Auch von ihm wollen wir nicht abweichen und wenn wir doch dazu gezwungen werden, dann nur unter großen seelischen Schmerzen.
Bisher konnten wir uns mit Illusionen recht gut über Wasser halten, doch seit mittlerweile fast drei Jahren bleibt kaum noch ein Stein auf dem anderen. Kein Tabu ist zu schade, nicht doch gebrochen zu werden. Ganz viele Selbstverständlichkeiten gibt es nicht mehr oder nur noch unter ganz neuartigen Formen von Bedingtheit und daher haben sich viele Visionen, die auf altbekannten Weltbildern beruhen, als das entpuppt, was sie schon immer gewesen sind: Illusionen.
Energie entscheidet
Wenn wir visionieren wollen, müssen wir daher anders an den Gedanken von Zukunft herangehen. Zukunft ist kein erwartbarer Zustand, sondern Zukunft ist Energie, die wir – von unserem Herzen ausgehend – bündeln und in einer kraftvollen energetischen Bewegung nach vorne richten. In einen zeitlichen Zustand, den wir „Morgen“ oder „Zukunft“ nennen.
Das bedeutet, beim Visionieren fokussieren wir uns weniger auf Dinge und Zustände, die wir erreichen wollen, sondern wir betonen den zweiten Aspekt der Visions-Definition: Eine Vision drückt aus, wofür wir in Zukunft stehen wollen. Eine Vision ist emotional und wirkt daher wie ein Magnet – und das ist nur energetisch zu erklären. Zukunft ist reine Energie – genauso wie unsere Emotionen ein rein energetischer Zustand sind. Die Definition von Emotionen lautete schließlich „Energies in Motion“ – also Energien in Bewegung. Energie folgt der Aufmerksamkeit und manifestiert, was wir fühlen.
Wenn wir uns die Zukunft als schlimme Dystopie vorstellen und mit den entsprechenden Emotionen wie Angst, Wut, Trauer, in dieses Zukunftsbild fallen, bündeln wir unsere gesamte emotionale Energie auf eine energetische Zukunft, die mit großer Wahrscheinlichkeit dann auch so kommen wird, wie wir sie FÜHLEN. Das nennt man auch Self-Fullfilling Prophecy.
Stellen wir uns alternativ eine Zukunft vor, in der wir glücklich sind, unser Leben mit Freude und Leichtigkeit gestalten, dann werden Sie schon beim Lesen merken, wie sich Ihr Herz öffnet. Der Brustkorb weitet sich und das Gefühl von Freude und Leichtigkeit entsteht schon beim Lesen. Und hier sind wir beim Traum.
Auch ein Traum ist ein Energiezustand, der aus dem Herzen heraus in die Zukunft gerichtet wird. Unser Gehirn kann zwischen Traum und Realität nicht unterscheiden! Alles, was wir uns emotional erträumen, ist für unser Gehirn quasi schon gesetzt. Das bedeutet, wir tun bewusst und unbewusst alles dafür, diesen Traumzustand zu erreichen. Auch das ist eine Self-Fullfilling Prophecy. Wir entscheiden also emotional, ob wir einen Alptraum manifestieren oder uns zukünftig lieber auf „Wolke 7“ sehen möchten. Wenn wir visionieren wollen, dann müssen wir lernen, aus dem Herzen heraus einen emotionalen Zustand zu finden, den wir erreichen wollen.
Beispiel:
Ende letzten Jahres lautete meine Vision: „Ich lebe an einem Ort, der mir Kraft gibt und an dem ich glücklich bin.“ Ich stellte mir die Kraft vor, in der ich zukünftig sein werde und ich fühlte, wie glücklich mich dieser Ort macht. Auf meinem Vision-Board fanden sich dann auch mehrfach die Wörter „Glück“, „Kraft“ und vergleichbare Seinszustände, die mir gefühlt wichtig waren und immer noch wichtig sind. Ich hatte allerdings in meiner Vorstellung völlig offengelassen, wo dieser Ort ist und wie er aussieht. Meine volle Aufmerksamkeit war ausschließlich auf die Emotion Glück und das Gefühl von Kraft und Stärke gerichtet. Im März 2022, keine drei Monate nach dem Jahreswechsel, fiel uns dieser Ort vor die Füße und sechs Monate später sind wir umgezogen.
Fazit:
Visionen sind wichtig. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen: Sie sind überlebenswichtig. Ohne Visionen fehlt uns der Zukunftsmut und das ist in den aktuell veränderungsreichen und chaotisch-unplanbaren Zeiten fatal. Zukunft ist Energie und daher sollten wir beim Visionieren unsere eigene Energie an einen gewünschten zukünftigen Traumzustand angleichen. Das bedeutet: Visionieren Sie nicht rational Ihr nächstbestes Haus oder die erste Million, sondern erträumen Sie sich den emotionalen Zustand von Fülle, von Glück, von Wohlbefinden, von Sicherheit oder Schutz. Lassen Sie dem Universum Spielraum, wo und wie diese emotionalen Zustände zu Ihnen kommen – und seien Sie offen für Wunder.
Übrigens: Ich wundere mich bis heute über den Ort, an den es mich verschlagen hat…
Melanie Vogel
Melanie Vogel, seit 1998 passionierte Unternehmerin, ist Brückenbauerin in eine neue Zeit. Analytisch, mit Scharfblick und Herzenswärme betrachtet sie die Welt aus der für sie typischen VogelPerspektive. Das von ihr entwickelte und mehrfach preisgekrönte „Futability®-Konzept” ist ihre Antwort auf VUCA – eine Welt radikaler Veränderungen. Als VUCA-Expertin macht sie Menschen fit für eine Welt dauerhaften Wandels, als WirtschaftsPhilosophin sorgt sie für nachhaltige Perspektivwechsel, als Business-Vordenkerin und Innovation-Coach bietet sie Prozess- und Führungskräftebegleitung an.
Die mehrfache Buchautorin und Lehrbeauftragte der Universität zu Köln war von 2018 bis 2021 Mitglied der Arbeitsgruppe „Hochschulbildung für das digitale Zeitalter im europäischen Kontext”, initiiert vom „Hochschulforum Digitalisierung” der Hochschulrektorenkonferenz (HRK). Die dreifach ausgezeichnete Innovatorin schreibt regelmäßig als Fachautorin für die Publikationen „PersonalEntwickeln” und „Grundlagen der Weiterbildung”.