Klimakrise, Coronakrise, Finanzkrise, Wirtschaftskrise – wir denken uns in eine Negativspirale hinein und werden dadurch handlungsunfähig, hat die Neurowissenschaftlerin Maren Urner beobachtet.
Dieses Interview erschien am 4. August 2021 auf www.her-career.com.
Die Professorin für Medienpsychologie und Mitgründerin des Online-Magazins Perspective Daily entwickelt deshalb in ihrem neuen Buch „Raus aus der ewigen Dauerkrise“ eine Methode, um gewohnte Denkmuster aufzubrechen. Ein Gespräch über „dynamisches Denken“ und was das Konzept für die Diversity-Debatte bringen kann.
Maren, „Raus aus der ewigen Dauerkrise“ heißt Dein neues Buch. Eine Dauerkrise und eine ewige noch dazu, was bedeutet das eigentlich?
Das ist ein Wortspiel, mit dem ich für die Grundaussage meines Buches sensibilisieren möchte: Alles beginnt im Kopf. Eine Krise ist im ursprünglichen Sinne ein Wendepunkt – eine Dauerkrise kann es demnach nicht geben. Nach der Krise kann es besser oder schlechter werden. Aber mittlerweile hat sich das Wort im Sprachgebrauch als etwas Negatives eingebürgert. Ob wir so auf die Welt blicken wollen, ist eine Entscheidung, die auch Auswirkungen darauf hat, wie handlungsfähig wir sind.
Dennoch erleben wir einen starken Wandel. Schon vor Corona waren die Digitalisierung und der Klimawandel große Herausforderungen. Kein Wunder, wenn wir uns davon dauerhaft angegriffen und erschöpft fühlen.
Ja, aber das liegt auch daran, dass wir ein zu negatives Weltbild haben, das häufig nicht der Realität entspricht – vor allem durch die Dauerbeschallung mit negativen Nachrichten-Schnipseln. Wissenstest zeigen, dass die meisten von uns langfristige Entwicklung und generelle Zusammenhänge dadurch falsch einschätzen. Zusätzlich sorgt diese negative Dauerbeschallung für körperlichen Stress – und damit ist nicht „der Stress“ gemeint, den wir umgangssprachlich gern als Zeitnot verstehen. Biologisch bedeutet Stress, dass die Anforderungen an den Körper größer sind als das, was er leisten kann. Kurzfristig ist das in Ordnung und ein Überlebensmechanismus bei akuten Gefahren. Aber chronischer Stress begünstigt diverse Krankheiten.
Wie kommen wir aus diesem Überforderungsmodus wieder heraus?
Das ist natürlich der heilige Gral. Es kommt darauf an, wieder handlungsfähig zu werden – und das beginnt im Kopf. Dafür habe ich das Konzept des „dynamischen Denkens“ mit seinen drei Zutaten entwickelt. Zunächst braucht es andere Fragen: Wir sollten nach dem „Wofür“ statt dem „Wogegen“ fragen. Zum Zweiten geht es um das Thema Kollaboration, also die Art und Weise, wie wir Gruppen definieren und dabei statt nach dem Trennenden nach Gemeinsamkeiten schauen. Und das Dritte ist, welche Arten von Geschichten wir uns erzählen. Diese sind Ausdruck unseres Verständnisses von Begriffen und damit verbundenen menschengemachten Strukturen in Gesellschaft und Politik. Wir brauchen neue Narrative, die konstruktive Lösungsansätze in den Vordergrund stellen.
Was heißt das dann konkret – zum Beispiel für eine Arbeitsumgebung in Unternehmen, die dabei helfen könnten, Krisen zu bewältigen?
Das hieße zunächst, das Wofür des Unternehmens zu fokussieren. Um diesem Wofür, was im Unternehmenskontext oft als Purpose betitelt wird, Nachdruck zu verleihen, braucht es neue Belohnungssysteme für Veränderungsdenken. Menschen, die Neues wagen, sollten nicht bestraft, sondern belohnt werden. Das meine ich nicht nur finanziell, sondern vor allem kulturell und kommunikativ. Diese Menschen sollten die Unternehmen als positive Beispiele herausstellen. Außerdem gilt es hierarchische Barrieren abzubauen, um Denk- und Kreativpotential nicht für irgendeinen Quatsch zu verbrauchen. Hierarchisches Denken und damit verbundene Machtkämpfe verhindern oft Fortschritt und zementieren Gewohnheitsdenken.
Du beschäftigst Dich in Deinem Buch auch mit der philosophischen Frage, worauf es eigentlich im Leben ankommt. Warum kann das ein dynamisches Denken unterstützen?
In dem Buch beschreibe ich, wie ich während meiner Arbeit immer wieder Momente der Erkenntnis – ich nenne sie Plopp-Momente – erlebe, wenn meine Beobachtungen von Reisen oder Begegnungen mit Forschungsergebnissen zusammenkommen und mir neue Zusammenhänge klar werden. Einer dieser Momente dreht sich um die Frage der angesprochenen Belohnungsstrukturen: In unserer Gesellschaft führen wir so viele Diskussionen, die im Grunde ein Ablenkungsmanöver von dem sind, was wirklich zählt. Was sind die wichtigen Dinge im Leben, die gesund und glücklich machen? In so vielen Debatten über die verschiedenen Formen von Krisen geht es meistens darum, wie wir das Bestehende – das vermeintlich „Normale“ – versuchen zu erhalten und wie wir noch effizienter werden. Aber Wofür? Verschiedene Konstrukte und Strukturen waren uns einmal Mittel zum Zweck, aber mit der Zeit ist uns der Zweck abhandengekommen. Die Herausforderung besteht darin, aus dieser Gewohnheit herauszukommen.
Worauf kommt es Dir im Leben an – also was heißt Glück für Dich?
Für mich persönlich ist es immer ein Abgleich zwischen dem, was ich persönlich möchte, und dem Wunsch, meine Neugier durch neue Erfahrungen immer wieder zu praktizieren. Das finde ich enorm stimulierend und bereichernd. Für mich ist Glück vor allem eine Art mentales Trampolin, mit dem ich immer wieder auf die Metaebene springe und mir selbst zuschaue. Vermutlich ist es etwas, was meine Ausbildung zur Neurowissenschaftlerin und meine Arbeit als Medienunternehmerin mit sich bringen. Parallel versuche ich auch, die vermeintlich kleinen Dinge des Lebens zu schätzen. Es gibt keine Insel der Glückseligkeit, sondern Glück ist wie ein Fahrradreifen, den wir immer wieder aufpumpen müssen.
Es gibt verschiedene Glückskonzepte, aber alle haben eines gemeinsam: Keines geht davon aus, dass Geld glücklich macht. Doch selbst wenn wir das erkannt zu haben glauben, handeln wir so, als wäre das doch der Fall.
Ja, das ist das Paradox. Das liegt an den Geschichten, die wir uns im Rahmen dieser „Geld-gleich-Glück-Fantasie“ fast immer und überall erzählen. Sie durchziehen die gesamte Gesellschaft – sei es in Kinderbüchern, Hollywood-Filmen, Büchern oder Nachrichten. Natürlich braucht es eine gewisse finanzielle Absicherung, um unsere Grundbedürfnisse zu stillen. Aber dann, wenn ich nicht mehr jeden Tag darüber nachdenken muss, wo ich schlafe und wie ich satt werden soll, bedeutet ein Zuwachs an Geld nur noch einen minimalen Zuwachs an Glücksempfinden. Trotzdem erzählen wir uns immer wieder, dass es auf die Rolex am Handgelenk oder den Sportwagen ankommt, mit dem wir auch unbedingt durch die Stadt flitzen wollen.
Es geht also um Statussymbole, die wir uns mit Geld erkaufen wollen. Wie sieht es denn mit beruflichem Status und Erfolg aus – inwiefern macht das glücklich?
Es gibt Statussymbole, die mit Geld einhergehen, und solche, die immaterieller Art sind, wie zum Beispiel Jobtitel oder akademische Titel. Wir haben einen Wettbewerb daraus gemacht, sie zu erlangen und versuchen uns darin zu übertreffen. Wenn wir nur diesen Statussymbolen hinterherrennen, weil wir sie vermeintlich als Erreichen eines Glückszustands missverstehen, kann es sogar sein, dass wir eher unser Unglück mehren.
Natürlich ist Glück selbst eine Frage der Definition. Nehmen wir das Beispiel von Glück als Lebenszufriedenheit, die wir etwa erlangen, wenn wir einer erfüllenden beruflichen Tätigkeit nachgehen. Gerade im pflegerischen Bereich, wenn wir anderen Menschen helfen, geht das trotz anstrengendem Arbeitsalltag häufig mit einer hohen Lebenszufriedenheit aufgrund einer sinnhaften Tätigkeit einher. Unser Körper schüttet dabei Belohnungs- und Glückshormone aus, die unser Immunsystem stärken. Anderen zu helfen ist ein wichtiger sozialer Kit. Menschen sind nicht deshalb so erfolgreich auf diesem Planeten, weil sie besonders scharfe Zähne haben oder schnell rennen können, sondern weil sie in der Lage sind, zu kollaborieren. Dass helfende Tätigkeiten durch Glücksgefühle belohnt werden, ist evolutionsbiologisch gesehen ein Überlebensmechanismus.
Beinhaltet dieses Denken nicht auch die Gefahr der Ausbeutung? Sonst hieße das ja, Krankschwestern und Krankenpfleger dürfen froh sein, dass sie helfen dürfen – auf Geld kommt es doch nicht an…
Natürlich sollten entsprechende Tätigkeiten angemessen entlohnt werden, sodass sich niemand Sorgen um die eigene Existenz machen muss. Das Paradox liegt ja woanders: Wir haben uns einen Zustand erschaffen, in dem Banker ein höheres Ansehen genießen und mehr Statussymbole erhalten als Menschen in pflegerischen, sozialen und karitativen Berufen. Das hat viel damit zu tun, welches Geschlecht Berufsvertreterinnen und -vertreter haben.
Die gesellschaftlichen und biologischen Belohnungssysteme sind auch deshalb wichtig, weil sie mit den eben genannten Geschichten, die wir uns erzählen, in Verbindung stehen. Studien mit Kindern zeigen beispielsweise, dass sie die Lust an Dingen verlieren, für die sie bei guter Ausführung eine Belohnung bekommen. Sinnstiftung wirkt viel nachhaltiger. Doch in den Medien erzählen wir uns weiter die Geschichte, dass wir es „geschafft“ haben, wenn wir einen bestimmten Kontostand erreichen. Wir bekommen die vermeintlich glückliche Welt der „Reichen“ angepriesen. Dabei wissen wir aus zahlreichen Studien, dass ein Lottogewinn oder hohe Gehälter uns nur kurz Glücksgefühle bescheren. Dann gewöhnen wir uns daran, wie an alles andere auch und sind nicht glücklicher als vorher.
Auch deshalb, weil man dann ja eigentlich nur noch verlieren kann …
Ja, genau. Wir wissen aus der Anreizforschung, dass die Angst vor Verlust ein starker Treiber ist. Jeder Verlust wiegt ungefähr doppelt so stark wie ein gleichwertiger Gewinn. Auf Negatives reagieren wir stärker als auf Positives. Das sind wir ganz Steinzeittier: In Krisen treibt uns die Angst in die Flucht oder den Kampf.
Auch wenn es um große gesellschaftliche Veränderungen geht, ist die Angst vor Verlust groß, Stichwort Gender-Debatte. Wie lässt sich das positiv wenden?
Da habe ich einen Lieblingssatz, den ich häufig in Bezug auf die Klimakrise verwende, der sich aber auch auf Gleichstellung münzen lässt: Diversity muss die Party in der Stadt sein, die ausverkauft ist. Das Tolle ist ja: Wir wissen aus ganz vielen Studien, dass gemischtgeschlechtliche Teams ein höheres kreatives Potential haben und bessere Entscheidungen treffen als Monokulturen. In Gesellschaften, die egalitär sind, kommen die Menschen besser mit Krisen klar, werden älter und sind glücklicher. Mehr geht nicht an Beweislage. Doch ein solches System gefährdet natürlich die Macht einiger aktuell Mächtigen. Deshalb kommt es zu Hetzkampagnen gegen Frauen, die in bisherigen Männerdomänen erfolgreich sind – sei es in der Politik, in der Wirtschaft oder im Sport.
Was muss denn dann noch passieren, damit wir die Veränderung ernst nehmen, wenn die Forschungslage so klar ist?
Wir brauchen ein Reframing, so dass wir Diversity selbst als Gewinn verstehen. Letztlich haben wir wie bei allen vermeintlichen Dauerkrisen die Wahl zwischen „Change by Design“ oder „Change by Desaster“. Das häufig praktizierte „statische Denken“ – also das Gegenteil vom „dynamischen Denken“ – wird uns mittel- bis langfristig vor die Wand fahren lassen. Wir müssen den Drang unseres Hirns kurzfristig zu denken verstehen und dann überwinden. Auch dabei gilt wieder: Wenn wir gestresst und ängstlich sind, treffen wir kurzfristige Entscheidungen. Deshalb sind Momente der Ruhe und Muße sowie das Gefühl von Sicherheit extrem wichtig, um neues Denken zuzulassen.
Wir sprechen oft davon, dass wir einmal abschalten müssen. Was würdest Du dabei empfehlen?
Unser Gehirn abzuschalten, kann nicht funktionieren. Dann wären wir tot. Stattdessen sollten wir öfters umschalten. Dafür kann es beispielsweise sinnvoll sein zu hinterfragen, wie wir unsere technischen Geräte nutzen. Umschalten kann bedeuten, sich zu überlegen, wann wir die Informationsflut unterbrechen und uns bewusst anderen Dingen widmen. Dafür können wir bestimmte Zeiten reservieren und Routinen aufbauen. Nur so können wir einen anderen Modus praktizieren. Aus der Psychologie wissen wir, dass Ruhephasen, Sport und Zeit mit anderen Menschen uns helfen, Dinge zu verarbeiten. Eine ganz wichtige Rolle spielt auch der Schlaf. Er ist kein notwendiges Übel, sondern ein Prozess, bei dem wir Erlebtes im Gedächtnis abspeichern und sortieren.
Gerade im Topmanagement wurde zumindest in der Vergangenheit ja gerne damit geprahlt, dass man mit wenig Schlaf auskommt…
Ja, das hört man – vor allem in Deutschland – auch heute noch. Da prahlen Führungskräfte damit, dass ihnen vier oder fünf Stunden Schlaf reichen. Sie sehen es als ein Symbol von Stärke. Wieder ein Beispiel dafür, dass wir andere Geschichten brauchen. Denn die Rechnung geht einfach vorne und hinten nicht auf. Wenn Politiker:innen bis früh in die Nacht in Konferenzen sitzen, können sie keine guten Entscheidungen mehr treffen. So steigt beispielsweise ihre Risikobereitschaft, weil unser Gehirn unter Schlafmangel wie alkoholisiert ist.
Noch einmal zum Thema Diversity: Gerade erleben wir ja auch eine sehr harte Diskussion darüber, inwiefern wir in den Medien gendern sollten. Wie denkst Du darüber?
Da können wir statisches Denken und konkrete Verlustängste auf dem Silbertablett beobachten. Wenn Menschen mit Sprache experimentieren, sehen sich andere in ihrer Weltsicht bedroht. Und in Bedrohungssituationen schalten wir auf Abwehr. Wenn jemand unser Weltbild angreift, gehen wir reflexartig in den Verteidigungsmodus. Da springt unser sogenanntes psychologisches Immunsystem an. Deshalb ist es so wichtig, über die dahinterliegenden Gründe zu sprechen: Warum fühlen sich Menschen dadurch angegriffen? Da sind wir dann schnell beim Thema Emotionen, die leider häufig immer noch als etwas Weibliches gelten und als etwas Schwaches abgestempelt werden.
Nützen oder schaden Emotionen also dem Thema Diversity?
Die vermeintliche Dichotomie zwischen emotional und rational gibt es nicht. Das sehen wir so herrlich an dieser Gender-Debatte: Alles, was einen Wert für Menschen hat, kann man rational erklären und argumentieren, warum es gut oder schlecht ist. Argumente basieren immer auf Emotionen. Ich kann etwas nur dann einen Wert zuordnen, wenn ich emotional etwas damit verbinde. Wir wissen aus zahlreichen Studien, dass Menschen, bei denen die Gehirnregionen zerstört sind, in denen wir Emotionen verarbeiten, nicht mehr handlungsfähig sind. Sie können keine Entscheidungen mehr treffen, weil sie keine Vorlieben haben. Wir müssen also mehr über unsere Emotionen und Werte sprechen – ganz einfach, weil sie die Basis unserer Entscheidungen und damit unsere Lebensgrundlage sind. Das gilt natürlich auch für Diversity-Themen.
Eines Deiner Spielfelder ist der Journalismus. Da geht es ja eigentlich um möglichst große Objektivität. Welche Rolle spielen denn Emotionen dabei?
Eine große, denn die Wertvorstellungen von Journalist:innen prägen alles, worüber sie berichten. Über die größte Herausforderung der Menschheit, also die Klimakrise, wird viel zu wenig berichtet beziehungsweise mit der stattfindenden Berichterstattung von den echten Veränderungsthemen abgelenkt. Angesichts der Vielschichtigkeit des Themas kochen wir lieber Marmelade ein und trennen den Müll. Aber das ist nur Schönfärberei und reicht nicht. Bei Perspective Daily arbeiten die Autoren nach dem Prinzip des konstruktiven Journalismus, der immer die Frage: „Was jetzt?“ in den Fokus stellt. Der lösungsorientierte Blick ermöglicht eine andere Denkweise und damit eine andere Art der Berichterstattung, die ein vollständigeres Bild der Welt liefert und Menschen nicht hoffnungslos zurücklässt.
Dann kamst Du also auf die Idee ein Magazin zu gründen, um andere Geschichten zu erzählen. Oder wie war das genau?
Die Story begann am Küchentisch. Mein Mitgründer Han Langeslag und ich haben uns als Neurowissenschaftler gefragt: Woher bekommen wir eigentlich unsere Informationen, die unser Weltbild prägen, wenn wir Schule und Ausbildung oder Studium hinter uns haben? Aus den Medien. Angesichts der fehlenden Lösungsorientierung in den Medien und der Gesellschaft haben wir uns dann gefragt: Was könnten wir dazu beitragen, um das Narrativ zu ändern? So war die Idee nicht weit, ein Online-Magazin zu gründen, das konstruktiv und lösungsorientiert berichtet.
Von der Idee zur Umsetzung ist es aber doch oft ein weiter Weg bei einer Gründung…
Ja, wir haben uns zuerst angeschaut, ob es sinnvoller wäre, in bestehende Medienhäuser reinzugehen. Bei jeder Entscheidung sind wir immer lösungsorientiert vorgegangen. Wir haben uns international ähnliche Projekte angeschaut, um von deren Fehlern und Erfahrungen zu lernen. Dabei haben wir viele intellektuelle Unterstützer:innen gefunden. Um das Ganze zu finanzieren, haben wir eine große Crowdfunding-Kampagne aufgesetzt und konnten gut 500.000 Euro einsammeln, um das erste Jahr zu finanzieren.
Klingt nach einer guten Erfolgsstory. War das tatsächlich so einfach?
Zu gründen ist nie ein „Walk in the Park“. Die Menschen, die ein Unternehmen gestalten, sind die wichtigste Zutat. Sie brauchen eine gute Ausdauer und müssen sich einbringen wollen mit Zeit, Ideen und Gedanken. Dabei gilt es immer die Balance zwischen Einsatz und Aufopferung zu wahren. Als Gründerin muss ich zu 100 Prozent von der eigenen Idee überzeugt sein und bereit sein, neue Erfahrungen zu sammeln und immer wieder neu zu justieren. „Dynamisches Denken“ in der Anwendung sozusagen! Uns haben sehr viele Menschen helfen wollen und dann wurde unsere Idee medienwirksam verbreitet. Wir konnten sie durch einige Talkshows der Nation tragen. Nur so wurde das Crowdfunding mit mehr als 12.000 Unterstützer:innen erfolgreich. In der Planungsphase hatten wir ein Gründerstipendium, das uns ein Jahr lang unseren Lebensunterhalt gesichert hat, so dass wir uns auf die inhaltliche Arbeit fokussieren konnten. Ausprobieren, machen, zeigen – am besten sind Menschen, wenn sie involviert sind und einen Sinn in dem sehen, was sie tun.
Du hast die Fehler angesprochen, die andere gemacht haben und von denen Ihr gelernt habt. Habt Ihr trotzdem auch Fehler gemacht?
Oh ja, ganz viele! Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll. Wer etwas Eigenes auf die Beine stellen will, landet immer wieder in Sackgassen oder versucht irgendwo in großer Höhe eine Wendung hinzulegen, wo keine Steighaken sind.
Ein Beispiel?
Am Anfang haben wir viel auf analoge Ausspielwege und Veranstaltungen gesetzt. Bis wir gemerkt haben, dass die Kosten-Nutzen-Rechnung dabei meist nicht aufgeht. Der Aufwand übersteigt häufig den Output. Erst durch das eigene Erleben haben wir gelernt, uns auf das zu fokussieren, was uns wirklich etwas bringt und beispielsweise die Reichweite erhöht.
Hast Du als Gründerin – also als Frau – auch einmal Nachteile erlebt?
Lange Zeit habe ich gedacht, dass Gender-Thema sei nicht relevant für mich. Ich habe mich primär als Menschen gesehen. Aber in der geteilten Rolle als Chefredakteurin und Geschäftsführerin bei Perspective Daily wurde ich immer darauf hingewiesen, dass ich eine Frau bin. Ich habe mich also eher gezwungenermaßen damit auseinandergesetzt. Auch jetzt bin ich oft noch die einzige Frau auf Podien. Quote hin oder her – es ist natürlich wichtig, dass Frauen und Männer sich gleichermaßen einbringen können. Es braucht mehr Plattformen und Veranstaltungen, auf denen wir das Gefühl haben, gemeinsam etwas bewirken zu können.
Wenn wir auf die Krisen der aktuellen Zeit schauen, warum sind wir da so träge? Weil sich das trotz allem so weit weg anfühlt. Wir handeln erst, wenn etwas Menschen aus unserem Umfeld betrifft, die unserer Gruppe angehören. Wir brauchen also ein neues Gruppendenken – die zweite Zutat vom „dynamischen Denken“. Wenn uns das Corona-Virus hoffentlich eines gelehrt hat, dann, dass es keine Grenzen gibt. Diese Grenzenlosigkeit sollten wir auch zwischen den Geschlechtern akzeptieren.
Du hast schon durch Dein erstes Buch „Schluss mit dem täglichen Weltuntergang“ einen Bestseller gelandet und wurdest plötzlich als Expertin durch die Medien gereicht. Wie ist das denn, wenn man plötzlich als Expertin so gefragt ist?
Es gibt schon Tage, an denen ich denke, das ist alles eine Nummer zu groß. Was mache ich hier eigentlich? Gleichzeitig muss ich mir gut überlegen, auf welchen Bühnen und zu welchen thematischen Debatten ich mich einbringen möchte. Ich bekomme Anfragen aus ganz unterschiedlichen Bereichen und neige eher dazu, Anfragen anzunehmen als abzusagen, weil ich ein sehr neugieriger Mensch bin. Da muss ich aufpassen, mich zu fokussieren und nicht zu übernehmen Dabei ist der Abgleich mit vertrauten Menschen und Personen, die in einer ähnlichen Situation sind, extrem wichtig geworden. Das hilft mir Abgrenzung zu üben und auch einmal Stopp zu sagen.
Und was nun? Wie geht es bei Dir weiter?
Die große Glaskugelfrage! Die ehrliche Antwort: Ich weiß es nicht! Hätte mir jemand 2013 gesagt, dass ich in drei Jahren ein Medienunternehmen gründen würde, hätte ich die Person sehr wahrscheinlich für verrückt erklärt. Ebenso, wenn mir 2017 jemand gesagt hätte, dass ich in zwei Jahren Professorin für Medienpsychologie sein würde. Ich habe das alles nicht geplant und bin auch nicht so erfolgsorientiert. Mir geht es in erster Linie um die Sache und Verantwortung. Mit einer Kombination aus Offenheit und Durchhaltevermögen tun sich immer wieder neue Wege auf. Deshalb habe ich wirklich keine Ahnung, was als nächstes bei mir kommt. Sicher wird es sich aber auch dabei um das Wofür drehen. Wenn wir die Frage annehmen, worauf es im Leben ankommt, landen wir schnell bei der nächsten: Was ist möglich, wenn wir es wirklich wollen?
Über Maren Urner
Maren Urner ist Neurowissenschaftlerin und Professorin für Medienpsychologie an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln. Sie studierte Kognitions- und Neurowissenschaften, unter anderem an der McGill University in Montreal, und wurde am University College London in Neurowissenschaften promoviert. 2016 gründete sie gemeinsam mit Han Langeslag das Medien-Magazin „Perspective Daily“, das sich dem Konstruktivem Journalismus verschrieben hat. Sie leitete die Redaktion bis März 2019 als Chefredakteurin und war Geschäftsführerin. Ihre beiden Bücher „Schluss mit dem täglichen Weltuntergang“ (2019) und „Raus aus der ewigen Dauerkrise“ (2021) sind Spiegel-Bestseller. Sie ist eine viel gefragte Keynote-Speakerin und Interviewpartnerin für TV, Radio und Podcast.