StartMoneyInvest„Inflation ist der größte Unsicherheitsfaktor im Jahr 2022“

„Inflation ist der größte Unsicherheitsfaktor im Jahr 2022“

In unserem SHEconomy-Interview erklärt Gurpreet Gill, Fixed Income Makrostrategin bei Goldman Sachs Asset Management, welche Faktoren zur derzeit hohen Inflation geführt haben und wie wir in unsicheren Zeiten investieren können. Zudem erläutert sie, wie Anlageentscheidungen die Vielfalt in der Wirtschaft fördern können.

Die Inflation in Österreich liegt bei 4,3 %, in Deutschland betrug sie im Dezember 5,3 % und in der Eurozone liegt sie auf einem Rekordhoch von 5,0 %. Was sind die Ursachen für diese Entwicklung?

Der Inflationsschub wurde in den meisten Volkswirtschaften durch ähnliche Faktoren ausgelöst. Dazu gehören der Anstieg der Energiepreise, statistische Effekte und auch Probleme auf der Angebotsseite. Die gestiegene Inflation im vergangenen Jahr liegt auch daran, dass sich vorübergehende Faktoren als nachhaltiger als erwartet erwiesen haben. Außerdem stand einer hohen Nachfrage an Arbeitskräften ein eher geringes Angebot gegenüber, was zu unerwartet starken Lohnerhöhungen geführt hat.

Halten Sie die Prognose der EZB, dass die Inflation im Jahr 2023 wieder unter 2 % fallen wird, für realistisch? Immerhin hat die EZB ihre Inflationsprognose für das neue Jahr kürzlich auf 3,2 % angehoben und damit fast verdoppelt.

Mit Blick auf die Inflationserwartung in Europa möchte ich vier Punkte ansprechen. Erstens glauben wir, dass die hohen Energiepreise im Dezember ihren Höhepunkt erreicht haben. Der zweite Punkt ist, dass sich die Inflation bei den Konsumgütern, auf die sich ein Großteil der Inflation im vergangenen Jahr konzentriert hat, allmählich normalisieren wird, da sich auch unsere Ausgabengewohnheiten normalisieren. Mit einem Abflauen der Pandemie werden die Konsumenten weniger für Waren, sondern mehr für Dienstleistungen ausgeben. Das sollte dazu beitragen, einige der Engpässe auf der Angebotsseite zu verringern. Drittens werden einige statistische Basiseffekte in Europa in diesem Jahr den Inflationsschub abschwächen. Der letzte und wichtigste Punkt ist, dass wir uns bei unseren Inflationsaussichten stärker auf die mittelfristigen Faktoren wie Inflationserwartung und Lohnwachstum konzentrieren. Hier zeichnet sich kein besonders festes Inflationsbild für Europa ab, da zum Beispiel die Arbeitslosenquote für die Eurozone etwa auf das Niveau vor der Pandemie zurückgegangen ist. Und die Inflationserwartungen liegen nur unwesentlich über dem Ziel der EZB. Generell stimmen wir also mit der EZB überein, dass sich die Inflation in den kommenden Jahren wieder auf ein normalisiertes Niveau einpendeln wird. Aber Marktprognosen gerade in Pandemiezeiten sind komplex und unterliegen vielen Unwägbarkeiten. Wir konzentrieren uns daher im kommenden Jahr vor allem auf die Angebotsseite der Wirtschaft, denn dort haben wir die meisten Inflationsüberraschungen erlebt.

Wie wirkt sich nun die Inflation auf Anleihen aus?

Für Anleihen ist die Inflation erst einmal nicht wünschenswert, da sich der Barwert zukünftiger Zinszahlungen und der Betrag, den ein Anleger bei Fälligkeit einer Anleihe erhält, verringert. Aber auch hier muss man relativieren, denn das Universum der festverzinslichen Wertpapiere ist breit und die Möglichkeiten sind vielfältig. So gibt es beispielsweise inflationsgebundene Anleihen, die von einer höheren Inflation profitieren. Wir sind auch der Meinung, dass Vermögenswerte wie Bankkredite, bei einer hohen Inflation ebenfalls gut abschneiden. Das liegt daran, dass bei steigenden Zinsen sich auch die Kupons der Kredite erhöhen. Auch der Inflationsfaktor und die Höhe der Inflation spielen eine Rolle. Wenn also die Inflation aufgrund eines Schocks auf der Angebotsseite steigt, dann sind Qualitätsanleihen attraktiv, weil sie sich in einem risikoreichen Marktumfeld tendenziell gut entwickeln. Wenn hingegen die Preise aufgrund soliden Wachstums stabil bleiben, können zyklische Komponenten des festverzinslichen Anlageuniversums wie Hochzinsanleihen Wert bieten.

Wie würden Sie das aktuelle Anlageumfeld charakterisieren?

Wir haben kürzlich einen Ausblick mit dem Titel „Goldilocks and the Three Bulls or Bears“ veröffentlicht, in dem wir argumentieren, dass ein Schlüsselthema im Jahr 2022 die Rücknahme der lockeren Geldpolitik der Zentralbanken sein wird, um die Inflation in Schach zu halten. Es wird hier um einen ausgewogenen Ansatz gehen. Das derzeitige Umfeld ist von vielen Unsicherheiten geprägt, insbesondere mit Blick auf die Inflation und die Pandemie. Außerdem ist die Ausgangsbasis für die Bewertung von Vermögenswerten hoch. Das ist anders als im März 2020, als die Vermögenspreise stark eingebrochen waren. Und selbst wenn sich die Probleme auf der Angebotsseite in naher Zukunft unerwarteterweise korrigieren lassen würden, hat die Pandemie bereits viele strukturelle Trends in Gang gesetzt und beschleunigt. Sie hat zum Beispiel die Art und Weise verändert, wie wir arbeiten, wie wir einkaufen, wie wir Zugang zu Bildung und Gesundheitsfürsorge haben, und sie hat auch unseren Fokus auf ESG-Themen geschärft. Der Klimawandel und damit verbundene Themen werden sich in den kommenden Jahren weiterhin auf wirtschaftliche Variablen auswirken und damit auch auf die Finanzmärkte.

Was bedeutet das nun aus der Sicht der Anleger?

Wir sind wir der Meinung, dass globale Herausforderungen wie der Klimawandel tatsächlich eine Anlagemöglichkeit darstellen. Wir favorisieren zum Beispiel bei Unternehmensanleihen Automobilhersteller, die für die Elektrifizierung des Verkehrs gut aufgestellt sind. Aber wir mögen auch Bonds von Unternehmen, die die Infrastruktur für diesen Übergang bereitstellen, zum Beispiel ein Unternehmen, das Ladepunkte für Elektrofahrzeuge in Parkhäusern in Europa aufstellt. Zudem ist in einem Umfeld, das von systemischer Unsicherheit geprägt ist, eine diversifizierte Anlagestrategie noch einmal wichtiger. Dazu gehört eine Allokation in sicherere Teile des Rentenmarktes, wie Staatsanleihen, die sich im Falle eines negativen externen Schocks gut entwickeln können. Interessanterweise gehören chinesische Staatsanleihen in diese Kategorie, denn sie bieten eine attraktive Rendite im Vergleich zu anderen, hoch bewerteten Staatsanleihen. Außerdem bieten sie Diversifizierungsvorteile, da sie eine geringe Korrelation zu anderen festverzinslichen Anlagen aufweisen.

Wie reagieren Sie bei Goldman Sachs auf die aktuelle Marktentwicklung? Was hat sich für Sie geändert?

Wir sehen aktuell geldpolitische Veränderungen aufgrund der hohen Inflation. Es gibt hier aber divergierende Entwicklungen in den unterschiedlichen Volkswirtschaften. In den USA erstrecken sich die Preissteigerungen beispielsweise recht stark auf Mieten, die etwa ein Drittel der typischen Verbraucherausgaben ausmachen. Eine ähnliche Dynamik ist in Großbritannien zu beobachten. Dies ist ein wichtiger Faktor für die Geldpolitik, wir gehen daher davon aus, dass die US-Notenbank die Zinsen in diesem Jahr viermal anheben wird und dass die Bank of England den Leitzins auf 1 Prozent erhöhen wird. Für die EU erwarten wir jedoch, dass die EZB die Zinsen bis 2024 nicht anheben wird. Das wird Auswirkungen auf Währungen und Staatsanleihen haben. Aufgrund der strafferen Geldpolitik der FED gewichten wir den US-Dollar daher aktuell über. Aber auch europäische Staatsanleihen sind interessant, weil wir glauben, dass der Markt mit seinen Prognosen für den Normalisierungspfad der EZB-Politik zu weit gegangen ist. Allerdings besteht das Risiko, dass die für das laufende Jahr erwartete geldpolitische Straffung nicht für eine Wirtschaft geeignet ist, die von Faktoren wie fiskalischen Anreize und hohen Sparquoten geprägt ist. Diese Auswirkungen der Pandemie auf die Wirtschaft könnten 2022 allmählich abklingen. Daher ist unser Engagement in Unternehmensanleihen und in Schwellenländern aktuell nur moderat. Wir konzentrieren uns auf Bereiche, in denen wir einen opportunistischen Wert sehen, zum Beispiel die asiatischen Hochzinsanleihen. Dort geriet der Markt in 2021 aufgrund der Entwicklungen im chinesischen Immobiliensektor unter Druck. In diesem Jahr werden die politischen Entscheidungsträger in China unserer Meinung nach ihre Politik anpassen, um das Wachstum zu stabilisieren, und davon wird der asiatische Hochzinsmarkt profitieren.

Trotz der Inflation ist es für die Gesellschaft immer noch sehr wichtig, den Weg in eine CO2-freie Welt einzuschlagen. Ich denke also, dass es notwendig sein wird, in diesem Bereich zu investieren. Halten Sie es für möglich, dass Privatanleger einen Beitrag leisten, der wirklich etwas bewirken kann?

Für unsere Kunden und uns als Vermögensverwalter ist es wichtig, finanzielle Ziele mit gesellschaftlichen Themen wie der Bekämpfung des Klimawandels und der Förderung von integrativem Wachstum in Einklang zu bringen. Nachhaltigkeit ist kein Ableger unseres Geschäfts; es ist Teil unseres Kerngeschäfts. Aber die Bewältigung großer systemischer Herausforderungen erfordert ein gemeinsames Handeln. Daher arbeiten wir mit unseren Kunden und anderen Stakeholdern daran, echte Veränderungen zu bewirken. Konkret arbeiten wir mit Kunden zum Beispiel daran, Net-Zero-Portfolios zu gestalten, bei denen wir uns auf Investitionen in Unternehmen konzentrieren, die sich der Bekämpfung des Klimawandels widmen. Eine der größten Herausforderungen in diesem Bereich ist die Datenverfügbarkeit, aber wir sehen hier kontinuierliche Verbesserungen. Vereinfacht gesagt, sind wir der Meinung, dass Unternehmen, die den Klimawandel unterstützen, eine langfristige Anlagemöglichkeit darstellen. Gleichzeitig sind wir der Meinung, dass Unternehmen, die zu einem integrativen Wachstum beitragen, mit größerer Wahrscheinlichkeit über ein besseres Management verfügen. Das liegt daran, dass soziale und Governance-Faktoren oft eng miteinander verzahnt sind, was wiederum dazu beitragen kann, den langfristigen Wert zu steigern.

Bei SHEeconomy sind Gender Balance und Diversity wichtige Themen. Wir selbst haben ein diverses Team, und wir sehen, dass es wirklich gut funktioniert. Zudem gibt es gibt Studien, die zeigen, dass diverse Teams auch sehr gut performen. Wie beurteilen Sie den Stand der Gender Balance im Investment- und Finanzsektor?

Im Asset Management von Goldman Sachs glauben wir an die große Bedeutung und Kraft von Vielfalt. Dies gilt auch für Anlageentscheidungen, bei der unterschiedliche Perspektiven vorteilhaft sind. Vielfalt hat natürlich mehrere Elemente, das Geschlecht ist nur eines davon. Unsere Kollegen im globalen Research der Bank haben letztes Jahr eine spannende Studie mit dem Titel „Black Womenomics“ veröffentlicht, in der die Erfahrungen schwarzer Frauen in Amerika beim Zugang zu Kapital, Bildung, Gesundheitsfürsorge und dem Arbeitsmarkt untersucht wurden. Der Bericht stellt große Ungleichheiten fest, zeigt Möglichkeiten zur Beschleunigung des Wandels auf und geht auf die verschiedenen Facetten von Diversität ein, nämlich Rasse und Geschlecht. Was die Finanzindustrie und die Wirtschaft allgemein betrifft, sind die Ursachen für fehlende Diversität im Management sehr komplex und hängen oft mit tief verwurzelten geschlechtsspezifischen Vorurteilen zusammenhängen. Ich versuche, das Thema in vier Elemente zu gliedern. Bei der ersten geht es um Gerechtigkeit. Also die Möglichkeit, einen Platz am Tisch zu haben. Der zweite Punkt ist die Vielfalt, also eine angemessene Vertretung an diesem Tisch. Drittens geht es um die Einbeziehung. Das heißt, eine Stimme am Tisch zu haben. Und der vierte Punkt, über den vielleicht weniger gesprochen wird, ist die wirtschaftliche Würde, die darin besteht, dass man für das, was man an den Tisch bringt, ohne Vorurteile oder Diskriminierung gerecht entlohnt wird. Wir brauchen in der Finanzbranche sowie in der Gesellschaft in all diesen Bereichen Fortschritte, und darauf konzentrieren wir uns als Unternehmen.

Setzt sich Goldman Sachs selbst aktiv für Diversität und Gender Balance ein?

Goldman Sachs hat mit „Launch with GS“ eine Investitionsstrategie in Höhe von einer Milliarde Dollar ins Leben gerufen, mit der wir Unternehmen, Gründern und Vermögensverwaltern mit diversen Teams Kapital zur Verfügung zu stellen. Aktuell geht nur 3 Prozent des Risikokapitals in den USA an vielfältige Gründer-Teams. Das wollen wir ändern. Zudem fördern wir eine stärkere Vertretung von Frauen in den Vorständen von Unternehmen, in die wir für unsere Kunden weltweit investieren. Wir arbeiten auch mit Unternehmen zusammen an Themen wie Vielfalt und Inklusion, da wir glauben, dass soziale Faktoren die Kultur eines Unternehmens prägen und sich somit auch positiv auf den Erfolg des Unternehmens auswirken. Zudem bringen unsere Kollegen aus dem Investmentbanking ein US-amerikanisches oder europäisches Unternehmen nur dann an die Börse, wenn zwei Kandidaten mit diverser Herkunft im Vorstand vertreten sind. Als Unternehmen haben wir uns selbst ehrgeizige Ziele gesetzt. So waren bereits im Jahr 2020 mehr als die Hälfte unserer neuen Analysten Frauen. Bis 2025 wollen wir erreichen, dass mehr als 40 Prozent unserer Vice Presidents weiblich sind. Beim Thema Inklusion hat Goldman Sachs die Initiative „Empower“ ins Leben gerufen. Mit diesem mehrstufigen Programm werden gezielt Frauen, LGBTQ+, schwarze, asiatische und Anleger mit lateinamerikanischen Wurzeln bei Investitionsstragien- und entscheidungen unterstützt. Wir möchten damit einen Beitrag für einen gerechteren Vermögensaufbau leisten.

Fotomaterial© Goldman Sachs

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