Die Shopping-Exzesse der letzten Tage haben viel über unseren Umgang mit Problemen offenbart. Denn die Krise hinter der Covid-19 Politik hat auch viel mit unserer Problemlösungskultur zu tun. Dabei könnte exponentielle Denkart den exponentiellen Wahnsinn zumindest eindämmen.
Wir haben kein Gesundheits-System, wir haben ein Krankheits-System. Wir haben ein System, das Krankheiten managt. Menschen werden behandelt, wenn sie krank sind. Ein Gesundheits-System würde jedoch bedeuten, dass wir die Gesundheit managen. Also dafür sorgen, dass niemand krank wird.
Unser Gesundheits-System ist wie eine Vorlage für unser Problemlösungs-System. Wir lösen Probleme, wenn sie am Tisch liegen. Was in einer Zeit, in der Probleme linear wachsen, also abseh- und kontrollierbar bleiben, immer gut funktioniert hat: Wir warten ab, bis es ein Problem gibt, und wenn sich das Problem dann nicht von selbst löst, dann kümmern wir uns darum.
Wir befinden uns aber in einer Zeit, in der Probleme exponentiell wachsen. Im Unterschied zur »linearen« Entwicklung, aus der zum Beispiel Trends zu lesen sind (vergangene Entwicklungsschritte lassen einen Rückschluss auf zukünftige Entwicklungsschritte zu), verändern sich in einer »exponentiellen« Entwicklung die Entwicklungsschritte in einem Tempo, das für uns nicht mehr nachvollziehbar ist. In anderen Worten: Während die Schritte, mit denen man versucht das wachsende Problem zu lösen, immer kleiner und kleinteiliger werden, legt in derselben Zeit das Problem mit jedem neuen Schritt an Gewicht zu, wächst sich zum Monster aus.
In Zahlen ausgedrückt: Eine einfache exponentielle Funktion ist x2. Aus 1 wird 2, aus 2 wird 4, aus 4 wird 8, aus 8 wird 16, aus 16 wird 32. Um diese mathematische Funktion zu verbildlichen, lade ich Sie auf folgendes Gedankenspiel ein: Gehen Sie 30 lineare Schritte. Grob geschätzt ist jeder Schritt einen Meter lang. Nach 30 linearen Schritten sind Sie 30 Meter gegangen. Und jetzt gehen Sie 30 exponentielle Schritte. Also den ersten 1m, den zweiten 2m, den dritten 4m usw. Wenn ich Sie nun frage, wieweit Sie bei Ihrer »Wanderung« gekommen sind, werden Sie die Antwort kaum für möglich halten: Denn mit ihren 30 exponentiellen Schritten haben sie 25 mal den Erdball umrundet. Die Tatsache, dass wir uns exponentielle Veränderung intuitiv nicht vorstellen können, macht unser aktuelles Problem gefährlich und brisant. Weil wir nicht glauben, was wir uns nicht vorstellen können.
Nehmen wir die jüngsten Entscheidungen rund um die Dämmung der Ausbreitung von COVID-19 unter die Lupe des exponentiellen Denkens. Hier ist vielleicht zum besseren Verständnis zu sagen, dass lineare Lösungen jene sind, die jeden einzelnen betreffen, in weiterer Folge eine ganze Stadt, ein ganzes Land, einen ganzen Kontinent, die Welt (bei Produkten nennt man diese Ausbreitung »skalieren«). Hausarrest ist eine lineare Lösung. Geschlossene Lokale sind eine lineare Lösung.
Ein exponentieller Zugang zu demselben Problem bedeutet, dass man Maßnahmen trifft, die einen Schneeballeffekt auslösen, optimaler Weise in einer Ruhephase, um die Verdopplungskette zu unterbrechen. In der aktuellen Situation hätte dies ganz konkret bedeutet, im Sommer, wo sich die Menschen in Sicherheit wähnten, für absolute Maskenpflicht zu sorgen. Masken dienen ja nicht nur den Schutz nach innen, sondern auch den Schutz nach außen. Sie reduzieren deutlich das Risiko angesteckt zu werden beziehungsweise jemanden zu infizieren.
Dass Masken nur einen geringen Schutz bieten, spielt dann keine Rolle, wenn sie flächendeckend im Einsatz sind. Flächendeckend geringer Schutz ist wirkungsvoller als konzentrierte Isolation – und erspart auch Maßnahmen wie geschlossene Restaurants oder Schulen, geschweige denn die Diskussion, von wo man sich nun am ehesten ansteckt.
Eine weitere, exponentielle Lösung wäre ein Verbot von Sales und Aktionen, die Geschäftsanstürme mit sich ziehen. Wenn in allen Geschäften derselbe Preis wie auch sonst um diese Zeit ausgeschrieben ist, verteilen sich die Einkäufer gleichmäßig und es entsteht keine Konzentration. Für die Geschäftsinhaber ist es bestimmt lukrativer, auf Lockaktionen zu verzichten, als das Geschäft komplett schließen zu müssen. Nachdem wir aber jetzt nicht mehr rückwirkend Maßnahmen für den Sommer treffen können, wäre dies eine schlaue Lösung, um zumindest einen »Normalzustand« für das Weihnachtsgeschäft herzustellen.
Eine richtige Politik wäre gewesen, das Problem nicht so lange anwachsen zu lassen, dass man auf Hilfe von außen beziehungsweise die schiere Hoffnung angewiesen ist (zB die Erfindung eines wirksamen Impfstoffs), sondern das Problem bereits zu einem Zeitpunkt zu lösen, als es noch kontrollierbar war. Andererseits führt eine Zuspitzung der Situation dazu führt, dass Impfdiskussionen (soll ich mich impfen lassen, oder nicht) nicht mehr geführt werden, weil die Menschen vor lauter Angst alles nehmen werden, was man ihnen vorlegt. Aber möglicherweise ist das ja vielleicht auch »the bigger picture« in unserem »Gesundheits-System« …